Goethes farbige Schatten
Johann Wolfgang von Goethe setzte sich intensiv mit dem Phänomen der farbigen Schatten auseinander. Im Jahr 1792 und später in seinem Hauptwerk „Zur Farbenlehre“ beschrieb er folgenden Versuchsaufbau um dem Naturphänomen auf die Spur zu kommen und notierte:
»Zu den farbigen Schatten gehören zwei Bedingungen, erstlich, dass das wirksame Licht auf irgend eine Art die weisse Fläche färbe, zweitens, dass ein Gegenlicht den geworfenen Schatten auf einen gewissen Grad erleuchte.« und weiter… »Man setze bei der Dämmerung auf ein weißes Papier eine niedrig brennende Kerze; zwischen sie und das abnehmende Tageslicht stelle man einen Bleistift aufrecht, sodass der Schatten, welchen die Kerze wirft, von dem schwachen Tageslicht erhellt, aber nicht aufgehoben werden kann, und der Schatten wird von dem schönsten Blau erscheinen.«
Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre, Weimar 1808-1810
Was war geschehen?
Die Lösung lautet Farbkonstanz: Unser Sehsystem neutralisiert soweit möglich Farbverschiebungen in unserer Umgebung. Es führt eine Art Weißabgleich durch. Ob wir uns im Freien oder in einem von Kunstlicht erhellten Innenraum befinden, unser Auge passt sich den Gegebenheiten an. Goethes Bleistift hinterlässt durch das Kerzenlicht eigentlich keinen farbigen Schatten. Vielmehr adaptiert unser Sehsystem das Umgebungslicht und versucht den vom weißen Papier dominierten Versuchsaufbau möglichst neutralfarben darzustellen. Es verschiebt quasi den Weißpunkt des Farbraumes in Richtung der dominanten Lichtquelle – dem warmfarbenen Licht der Kerze. Kerzenlicht hat eine Farbtemperatur von etwa 3000K, d.h. es erscheint orange. Der Bleistiftschatten und der runde Kerzenschatten werden nur vom Tageslicht erhellt. Er muss folglich in der Farbe erscheinen, die dem gelb-orangenen Kerzenlicht fehlt. Und das ist Blau.
Diese Konstanz der Farben ist ein genialer Korrekturmechanismus des menschlichen Sehens. Er sorgt dafür, dass die Anmutung eines Objekts bei unterschiedlichen Lichtverhältnisse möglichst gleich bleibt.
Kameraleuten und Beleuchtern bereitet dieses Phänomen mitunter große Schwierigkeiten, den beim Filmen wird oft Kunstlicht verwendet. Selbst Außenaufnahmen werden oft zusätzlich mit Kunstlicht aufgehellt. Dieses Mischlicht führt, wenn die Farbtemperatur der Lichtquellen nicht übereinstimmen, zum Phänomen der farbigen Schatten und bei unterschiedlichen Positionen der Lichtquellen sogar zu farbig geteilten Mehrfachschatten.